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Die unerhörte Geschichte meiner Familie

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Als seine Mutter im Sterben lag, fuhr Miljenko Jergović zu ihr nach Sarajevo und brachte sie zum Erzählen. Heraus kam eine Familiengeschichte zwischen Habsburger Reich, Titus‘ Jugoslawien, und dem zerrissenen, verwundeten Balkan unserer Zeit.

„Meine Identität setzt sich überwiegend aus dem zusammen, was ich nicht bin“, schreibt Miljenko Jergović zu Beginn seines Romans „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“. Im Sommer 1993, mit 27 Jahren verließ er Sarajevo, floh vor „den Panzern und Granatwerfern der Verbrecher Mladić und Karadzić“, wie er schreibt, und kam auf diese Weise mit dem Leben davon. Jergović führt uns zu Schauplätzen in aller Welt, nach Brasilia und Graz und Straßburg und Norditalien, in Städte und Regionen, in denen verschiedene Teile der Familiensippe eine Zeit lang landeten, und immer wieder sehen wir uns zu verschiedenen Zeiten in Sarajevo um, der Geburtsstadt Jergovićs.

„Mein Ziel war klar, Zagreb, die Hauptstadt von Kroatien. (…) Mein Kroatentum war bosnisch, schlimmer noch, kuferasko. Kuferasche, Kofferkinder, nannte man diedie unter Franz Joseph aus anderen Teilen der Monarchie nach Bosnien kamen, Leute, die vermeintlich aus dem Koffer lebten. Sie schufen mit ihren Kulturen und Sprachen eine Identität jenseits der Nationalität, das kulturelle Substrat war stärker als die nationale Zugehörigkeit.“

Buchzitat

„Es handelt sich nicht unbedingt um eine Suche nach der verlorenen Zeit oder einer verlorenen Geschichte. Es handelt sich vielmehr um eine Suche nach verlorenen Familienmitgliedern, nach verlorenen Menschen. Um eine Suche nach verlorenen Gestalten und Figuren, die überall auf der Welt zerstreut sind.“

Miljenko Jergović

Aus diesem politischen und kulturellen Wirrwarr entwickelt der Schriftsteller seine Familiensaga. In seiner Heimat gilt Miljenko Jergović als enfant terrible. Keinem Verband zugehörig, sich zu keinem -ismus bekennend, ist er in einem nationalistisch aufgeheizten Klima seit jeher ein Außenseiter, einer, der sich in keine Front einreiht, außen vor und mitten drin stehend, misstrauisch beäugt, verleumdet, bedroht. „Allein dass man sich abhebt, von der Masse unterscheidet, provoziert Abwehr“, heißt es zu Beginn des Romans.

Der Roman ist ein Verwirrspiel. Er zeigt den Zeitlauf der Geschichte aus verschiedenen Perspektiven, er kommt – ähnlich wie beim anarchischen Schriftstellerkollegen aus Serbien, Bora Cosić – vom Hölzchen aufs Stöckchen. Rhapsodisch wird diese Konstruktion genannt, so wie früher eben oder auch heute noch Familiengeschichten im Kreise der Lieben ausgetauscht werden, assoziativ und mäandernd und weit abschweifend.

Miljenko Jergović versteht seine Form der Geschichtsschreibung als „Summe der subjektiven Geschichten“, heißt es einmal im Roman und weiter: „Die Geschichte einer Gemeinschaft besteht aus Millionen persönlicher Geschichten.“ Man darf sich den Schriftsteller als verzweifelt glücklichen Menschen, der nie fertig werden wird, vorstellen. Jergović verfasst so etwas wie eine literarische Geschichtsschreibung von unten.

 „Ich glaube, man erfährt aus diesen kleinen, privaten Geschichten etwas über den Zeitgeist der jeweiligen Epoche. Das ist etwas, was eigentlich auch diehistoriografische Geschichtsschreibung leisten sollte.“

Miljenko Jergović

Miljenko Jergović: Die unerhörte Geschichte meiner Familie.
Roman. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2017. 1.144 Seiten (NR)

Bild: zVg.
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